Neuland

Die Digitalisierung des Mittelstands steckt noch in den Anfängen. Es wird Zeit, zu investieren.
Illustration: Sören Kunz
Illustration: Sören Kunz
Lars Klaaßen Redaktion

In Remshalden ist Digitalisierung kein Zukunftsthema mehr, dort wird sie schon seit 2013 realisiert: Cubu:S ist ein sogenanntes Werker-Assistenzsystem mit Bewegungserkennung und Visualisierungsfunktionen. Es zeigt Mitarbeitern ihre Montageinformationen unmittelbar an. Bei falschen Verrichtungen werden die Kollegen entsprechend vom Assistenzsystem gewarnt. Ein Pick-by-light-System weist ihnen mit grünem Licht an, welches Bauteil montiert werden muss. Kisten, aus denen sie keine Werkstücke greifen sollen, werden hingegen rot angeleuchtet. Ein Put-to-light-System wiederum gibt die Montageposition an. Anschließend überprüft eine Bauteilerkennung die korrekte Montage. Gleichzeitig wird diese visuell dokumentiert, um die Qualität zu sichern.

Das von der mittelständischen Firma Schnaithmann Maschinenbau GmbH in Serie produzierte Assistenzsystem „kommt vor allem bei Montagevorgängen mit zahlreichen Varianten zum Einsatz“, erklärt Entwicklungsleiter Volker Sieber. Cubu:S habe mittlerweile zahlreiche Abnehmer sowohl in der Automotive- als auch in der Luftfahrtindustrie gefunden. Mit seinen 230 Mitarbeitern ist Schnaithmann ein Vorreiter bei der Entwicklung von Industrie 4.0-Konzepten. So wurde das Familienunternehmen im Wettbewerb „100 Orte für Industrie 4.0 in Baden-Württemberg“ ausgezeichnet, mit dem das Bundesland innovative Ideen für die Digitalisierung der Produktion würdigt.

Andere Unternehmen sind bei diesem Thema noch nicht so weit wie Schnaithmann. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Digitalisierung im Mittelstand“ der KfW Research vom August 2016. Der deutsche Mittelstand befinde sich demzufolge „noch in einer frühen Phase der Digitalisierung“. Zwar haben vier von fünf kleinen und mittleren Unternehmen in den zurückliegenden drei Jahren Digitalisierungsprojekte umgesetzt und in neue Technologien oder Verbesserung der IT-Kompetenz investiert. Die einzelnen Vorhaben hatten jedoch meist nur einen überschaubaren Umfang: Vor allem kleine Unternehmen mit unter zehn Beschäftigten setzten dafür weniger als 10.000 Euro pro Jahr ein – und planen häufig für die nächsten Jahre keine höheren Ausgaben. Knapp die Hälfte der großen Mittelständler – mit 150 und mehr Beschäftigten – geben über 100.000 Euro im Jahr dafür aus. Hochgerechnet auf den gesamten deutschen Mittelstand entspricht dies jährlichen Ausgaben in Höhe von etwa zehn Milliarden für Projekte zum Ausbau der Digitalisierung.

„Es braucht mehr Investitionen, um dauerhaft Schritt zu halten und produktiver zu werden“, sagt KfW-Chefvolkswirt Jörg Zeuner. „Bereits heute ist die Gesamtwirtschaft dem Mittelstand bei der Produktivität um das Vierfache voraus. Da klafft eine große Lücke, und die ist ganz klar die Achillesferse der mittelständischen Unternehmen.“ Zwar haben 78 Prozent der untersuchten Unternehmen zwischen 2013 und 2015 in technologische Projekte investiert, etwa in Hardware, Software, IT-Sicherheit, Website, IT-Bezugsformen und Verknüpfung von Prozessen. Auch Projekte zur Erweiterung von Kompetenzen im Bereich der Digitalisierung wurden initiiert. Doch insgesamt sind laut KfW-Studie bei rund einem Drittel der Mittelständler „selbst grundlegende Anwendungen wie ein eigener Internetauftritt  unterdurchschnittlich verbreitet“. Besonders häufig zählen die kleinen Mittelständler mit weniger als 50 Mitarbeitern zu diesen Digitalisierungs-Nachzüglern. Rund die Hälfte der mittelständischen Firmen hierzulande liegt im Mittelfeld und nutzt etwa einzelne Anwendungen digital vernetzter Information und Kommunikation. Digitale Vorreiter, also Unternehmen, die bereits auf digitale Produkte, Dienstleistungen, Apps oder Industrie 4.0 setzen, stellen mit einem knappen Fünftel des Mittelstands die Minderheit dar.

Dass die zunehmende Digitalisierung gerade mittelständische Unternehmen vor enorme Herausforderungen stellt, hat auch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) festgestellt. Die vom BMWi in Auftrag gegebene Studie „Erschließen der Potenziale von Industrie 4.0 im Mittelstand“ bilanziert, dass bisherige Forschungen und Projekte zur Digitalisierung der Wirtschaft und zu Industrie 4.0 zu stark auf die Entwicklung einzelner Technologien bezogen sind: „Zudem mangelt es noch an der Zusammenführung, Aufbereitung und Vermittlung der Ergebnisse in einer Form, die für Mittelstand und Handwerk geeignet ist.“ Mit der Förderinitiative „Mittelstand 4.0 – Digitale Produktions- und Arbeitsprozesse“ unterstützt das BMWi daher Mittelstand und Handwerk bei der Digitalisierung und innovativen Vernetzung sowie der Anwendung von Industrie 4.0. Die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen soll gestärkt und neue Geschäftsfelder im Kontext von Digitalisierung und Industrie 4.0 erschlossen werden. Dazu bieten bundesweit vier „Mittelstand 4.0-Agenturen“, zehn „Mittelstand 4.0 – Kompetenzzentren“ und ein Kompetenzzentrum „Digitales Handwerk“ Informationen und Qualifikationen für mittelständische Unternehmen zu den Themenbereichen der Digitalisierung. Weitere themenspezifische Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren sollen Mitte des Jahres 2017 entstehen.

Bereits im Mai 2016 trafen sich Experten in Berlin, um über die Herausforderungen des Mittelstands zu diskutieren. Die Diskussion, veranstaltet von der R&R Unternehmensgruppe, stand unter dem Motto: „Wie kann die digitale Transformation gelingen? Ganz praktisch.“ Holger Klindtworth von der Beratungsfirma Ebner Stolz sprach dort über die geringe Halbwertzeit von IT-Systemen, über IT-Sicherheit, Datenschutz, vertragliche Risiken und die Befindlichkeiten der Generation Y. Danach führte Rechtsanwalt Jörg Kahler in die rechtlichen Rahmenbedingungen ein: Haftung, Gewährleistung, Verordnungen, Richtlinien, Versicherbarkeit. Er betonte, dass das Recht keine Bremse für Innovationen sei: „Sie können mit Digitalisierungsprojekten durchstarten.“ So entstünde in Berlin alle 20 Stunden ein neues Internetunternehmen. Passend dazu kam die KfW-Studie „Digitalisierung im Mittelstand“ zu dem Schluss, „dass digitale Technologien Gründern den Marktzutritt erleichtern“. Und im Zweifel können die Neuen sich auch von den Alten noch etwas abgucken, zum Beispiel beim Maschinenbauer Schnaith-mann, der 1985 gegründet wurde – als von Digitalisierung im Mittelstand noch niemand sprach.

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